Gelobt, Verurteilt, Vergessen, Wiederentdeckt
62 Bauhäusler*innen im Land der Sowjets

Anja Guttenberger, Astrid Volpert
Veröffentlichungsdatum: 11.2018

In Ihren Recherchen haben Sie herausgefunden, dass es mehr als ein halbes Hundert Bauhäusler gab, die in die Sowjetunion auswanderten – eine Zahl, die viel größer ist als die zu Beginn der 1990er Jahre angenommene. Welchen Anreiz bot die Sowjetunion für diese mehrheitlich jungen Menschen; was versprachen sie sich von ihrer Wanderung nach Osteuropa, als sie losfuhren?

Mit aktuellem Stand Herbst 2018 sind es 62 Bauhäusler, die in der zweiten Hälfte der 1920er bis Mitte der 1930er Jahre Deutschland bzw. ihre Heimatländer in Richtung UdSSR verließen. Vertreten sind alle Ausbildungsbereiche des Bauhauses. Es handelt sich um Maler/Graphiker, Designer, Fotografen, Weberinnen, einen Komponisten und natürlich Architekten/Städtebauer. Unter ihnen befinden sich Lehrkräfte und Verwaltungsangestellte, Mitarbeiter von Gropius’ Bauabteilung, auch die ausländischen Gastdozenten Edvard Hejberg, Mart Stam, Karel Teige und Hans Schmidt. Weiterhin entdecken wir ehemalige Studenten mit und ohne Diplom unter allen drei Direktoren, zum Beispiel unter Mies van der Rohe Arnold Knake, Michail Kowarski, Isaak Butkow, Lony Neumann und Anima Kuithan. Und von den Hospitanten oder Aufbaustudenten gehörten Pál Forgo, Stefan Sebök, Antonin Urban und Tibor Weiner dazu.

Die Russlandreisenden des Bauhauses stammen aus elf Ländern. In dieser Formation gibt es Angehörige unterschiedlicher Konfessionen, Menschen evangelischen und katholischen Glaubens ebenso wie jüdischer und atheistischer Herkunft. Es sind 15 Frauen und 47 Männer. 21, ein Drittel, waren Mitglieder kommunistischer Parteien, die meisten aber parteilos. 18 Bauhäusler ließen sich im Gastland einbürgern. Belá Scheffler und Max Krajewski, ein polnischer Jude, gingen den Schritt als Staatenlose bei ihrer Übersiedlung. Sie waren dann nicht mehr als Ausländer registriert. (Auf die ursprüngliche Herkunft berief man sich erst wieder während des Großen Terrors[1]).

Die Mehrzahl der Genannten wanderte allerdings nicht nach Moskau aus, sie kamen als Vertragsarbeiter auf Zeit, so genannte inospezialisty (Auslandsspezialisten). Egal, ob sie sich spontan oder reiflich überlegt, einzeln oder kollektiv für diesen Weg entschieden hatten, sie konnten nicht einfach losfahren. Sie brauchten gute Papiere für die Einreise, einen vorab geschlossenen Arbeitsvertrag mit einem sowjetischen Betrieb, der auch die Unterbringung regelte, und sogar Ausfuhrgenehmigungen für die Mitführung persönlicher Gegenstände wie Schreibmaschine oder Fotoapparat. Selbst die Anzahl mitzunehmender Kleidungsstücke war begrenzt.

All diese bürokratischen Hürden interessierten zu Beginn kaum jemand. Was zählte, war die Möglichkeit, bald selbst erfahren zu können, wie das fremde weite Land, das seit der Oktoberrevolution einen anderen Weg als die „Alte Welt“ eingeschlagen hatte, wirklich war, wie seine Menschen tickten. Denn der Westen steckte in einer tiefen Krise, die ja auch vor dem Bauhaus nicht Halt machte. Da Moskau eine qualifizierte Anstellung zusicherte, schien die Unternehmung – abgesehen von Sprachdefiziten im Russischen – kein allzu großes Risiko zu bedeuten. Und vergessen wir nicht: Als Ahnungslose kamen die Bauhäusler mitnichten. Es gab auch im Westen jede Menge Literatur, Filme, Kunstausstellungen und Vorträge. In Dessau, am Bauhaus, fesselten Dsiga Wertows Experimentalfilme, Vorlesungen von El Lissitzky und Naum Gabo waren Höhepunkte. Auch die Augenzeugenberichte von Hans Volger, Peer Bücking, Gerhard Moser, Gunta Stölzl und Arieh Sharon, die besuchsweise schon Erfahrungen mit Russland gemacht hatten, steigerten das Interesse an dieser östlichen Neuen Welt.

Die Grundlage für Ausländer, in die UdSSR zu gelangen und dort berufsspezifisch am Aufbau des Sozialismus, der Industrialisierung im Rahmen der ersten zwei Fünfjahrespläne mitzuwirken, bot das Dekret des Sownarkom (Rat der Volkskommissare) „Über die Hinzuziehung von Auslandsspezialisten“ vom Februar 1927. Damit waren Personen von Rang und Namen gemeint, erst per Beschluss vom 2. August 1928 wurden auch durchschnittlich Qualifizierte geworben. Zum Vergleich: Anfang 1930 betrug ihre Zahl 1.112, ein Jahr später waren es 2.898, Anfang 1932 Anfang 1933 – 6.550. Es handelte sich mehrheitlich um Vertreter von Industriefirmen, die westliche Betriebsanlagen montierten, russische Fachkräfte ausbildeten und danach wieder zurückkehren sollten. Während Spezialisten der ersten Kategorie wie der Bauhausprofessor Hinnerk Scheper von den Russen beworben worden, meldeten sich andere Bauhäusler selbst für den Auslandseinsatz. Dies betraf unter anderem Max Krajewski, Willi Zierath und Isaak Butkow. Hannes Meyer, der sich nach seinem Hinauswurf aus dem Bauhaus in Dessau den Sowjets empfahl, zog in seinem Schlepptau sieben ehemalige Studenten nach Moskau. 1933 bis 1935, als einige Bauhäusler nach Ablauf ihrer Arbeitsverträge die UdSSR wieder ver-lassen hatten, kamen als erste Emigranten die politisch Verfolgten des Naziregimes. Sie wurden als Flüchtlinge geduldet, hatten in der Regel kein Anrecht auf normale Vertragsarbeit und bekamen wie der im deutschen KZ Börgermoor schwer an TBC erkrankte Gerhard Moser über das französische Exil durch die MOPR (russische Sektion der Internationalen Arbeiterhilfe) nach Moskau und erhielten eine notdürftige Versorgung und Unterkunft zugewiesen.

 

Wie entwickelte sich die berufliche und gesellschaftliche Lage der Auslandsspezialisten des Bauhauses in der Sowjetunion?

Das muss man differenziert sehen. Es kommt auf die unterschiedlichen Berufsgruppen, Status und Umstände der Übersiedlung sowie auf den Einsatzort an: Für Architekten, Städtebauer und Farbgestalter gab es viel zu tun, in Moskau, aber vor allem in den Regionen des Landes. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen (hygienische Verhältnisse) waren hier schwerer als im zentralen Teil. Deshalb schickte man vor allem die Jungen dorthin. So delegierte der Frankfurter Stadtbaurat Ernst May, zu dessen Arbeitsbrigade eine Reihe von Bauhäuslern zählte, die jungen Spezialisten direkt auf die Baustellen: nach Magnitogorsk, Nishni Tagil, Nowosibirsk, Kemerowo, Prokopjewsk-Tyrgan, Nowokusnezk. Vom Alltag dort berichteten sie sehr lebendig, begeistert, kritisch und skeptisch in Briefen an Freunde und Kollegen, wie z. B. Mart Stam aus Magnitogorsk am 25. August 1931 an den Generalsekretär der CIAM, Siegfried Giedeon: „Wir haben bemerkt, dass jeder ehrliche Mensch, der nach Russland fährt, also meistens zu erst nach Moskau kommt, einige Wochen schwere Depressionen durchzumachen hat… Dass man sich auf das, was die rechte Partei schreibt, nicht verlassen kann, ist begreiflich, aber auch die linke Partei gibt ein falsches Bild; und obwohl wir wissen, dass die kommunistische Presse übertreibt und obwohl man … angewidert wird von dem Ton dieser Presse, so entgeht man doch nicht ganz ihrem Einfluss.“[2] In einem weiteren Brief an Giedeon aus Makejewka in der Ukraine äußert sich Stam zur Situation und Aufgabe der Auslandsspezialisten: „Wir arbeiten hier nicht mit der Absicht, die Kunstentwicklung beeinflussen zu wollen und neu Material der Kunstgeschichte zur Verfügung zu stellen, sondern vielmehr, weil wir eine grosse kulturgeschichtliche Entwicklung miterleben, welche in ihrem Umfang und Ausmass kaum da war. Hier ist ein ganzes Volk, das sich eine neue Ordnung baut, das mit gewaltiger Energie einen Rückstand von mehreren Zehnzahlen von Jahren (d.h. Jahrzehnten – AV) einzuholen versucht; …Wir arbeiten nicht in Moskau, wir sind immer draussen, dort wo eigentlich der Aufbau vor sich geht. Dort, wo die einfachsten Begriffe für die Bevölkerung vollkommen neu und fremd sind. Wohnkultur, Hygiene, alle Bequemlichkeiten sind unbekannt, man ist kaum der Erdhütte entwachsen. (…) Heute sind wir geschickt nach Makeewka im Donbass, hier soll anstelle einer alten Stadt aus kleinen Holzbuden eine neue Stadt gebaut werden. Für über 200.00 Menschen. Wir haben hier Auftrag, an Ort und Stelle das Projekt zu machen, es bestätigen zu lassen, und dann weiter alle Projekte für verschiedene Bauten auszuwählen aus bestehenden Albums (typisierten Vorlagen, AV) oder selbst zu entwerfen, Bestätigung zu erkämpfen und die baureifen Pläne zu machen. Die Aufgaben müssen jedem Architekten imponieren. Es ist auch wirklich unglaublich begeisternd, aber alles ist trotzdem auf einmal wieder so schwer und umständlich und für vieles zu wenig Verständnis.“[3] Ende 1934 gab Stam auf und kehrte zurück in die Niederlande.

 

Was projektierten sie und wie sehr hatte das noch mit der Architektur zu tun, die sie am Bauhaus erlernt und umgesetzt hatten?

Mart Stam hat es schon angedeutet: Es ging nicht um „Bauhaus-Architektur“, daran glaubte wohl anfangs nur Hannes Meyer, auch er korrigierte sich bald. Die sowjetischen Auftraggeber – das waren staatlichen Verwaltungen, die auf strikter Order des Parteiapparats funktionierten – gaben die Richtlinien bis ins Detail ästhetischer Gestaltung vor. Generalissimus Stalin sah sich selbst als Chefarchitekt und griff oft selbst in die Großprojekte ein. Die Bauhäusler waren in zahlreiche städtebauliche Planungen eingebunden, in den Entwurf von Gemeinschaftsbauten. Sie forschten zur Entwicklung bestimmter Bautypen (besonders im Wohnungs- und Schulbau). Sie kümmerten sich ebenso um Innenarchitektur, um die Umsetzung sozialer Ansprüche und technischer Details der Bauausführung. Die unbestimmten, wenig dauerhaften Strukturen der sowjetischen Bauinstitutionen, die nach politischem Machtkalkül und -monopol der Auftraggeber handelten, wurden ihnen zum Verhängnis. So gab es ohne Eigenverschulden stets ein Zuviel an Papierarchitektur. Bezeichnend sind die sich über Jahre hinziehenden Ausschreibungen und Wettbewerbe, deren Maßstäbe immer wieder verändert wurden. Denken wir nur an die Aufträge zur Rekonstruktion und Umgestaltung der sowjetischen Hauptstadt. 1932 legten neben sechs anderen Planungsteams, denen vom Stadtsowjet die gleiche Aufgabe gestellt war, auch Hannes Meyer, Peer Bücking und der sowjetische Architekt Israel Geimanson, einen Entwurf für „Groß Moskau“ vor. Er zielte komplex und radikal auf den Neubau einer modernen roten Satellitenstadt, doch er wurde wie alle anderen Vorschläge verworfen. Erst 1935 einigte man sich auf einem neuen Generalplan, ohne Rückbezug auf die Vorentwürfe der Auslandsspezialisten (auch Ernst May und Kurt Meyer hatten sich beteiligt).

Das Bauhaus war in den 1930er Jahren dennoch sehr nutzbringend bei der Entwicklung von Architektur, Städtebau, aber auch von Konsumgütern für die Bevölkerung. Gefragt war es nicht als „Stil-Ikone“, sondern als auf die Praxis gerichtete Lehrstätte. Bauhäusler konnten im Prinzip alles selber machen, so, dass es funktionierte: Sie waren gewohnt, die Arbeit gut zu strukturieren, zu organisieren und zu vermitteln. Sie unterrichteten offiziell und inoffiziell. Zudem waren sie ausgezeichnete Rationalisatoren und Designer. Als das von Belá Scheffler in Swerdlowsk/Ural geplante und gebaute Kulturhaus, das mit einer Großküche und Essenssälen verbunden war, 1935 eingeweiht wurde, fehlten dem Gebäude Lampen und Sitzmöbel. Der gelernte Tischler Scheffler entwarf sie über Nacht und sie wurden unter seiner Anleitung hergestellt. Eine ähnliche Anekdote ist von Philipp Tolziner übermittelt. Er konstruierte während seiner Haft im Gulag in Solikamsk einen perfekt funktionierenden Behandlungsstuhl für die örtliche Zahnärztin.

Vergessen wir bitte nicht die Leistungen derer, die in anderen Berufen in der UdSSR tätig waren. Zum Beispiel die Fotografin und Gestalterin Lony Neumann und die Weberin Lena Bergner, beide aus der Bauhaus-Kommune am Arbatplatz. Letztere bemühte sich in einer Fabrik, die Möbelstoffe produzierte, um deren neues Dekor, aber auch um die Einrichtung und den Betrieb der Webstühle, auf denen die von ihr entwickelten Muster hergestellt wurden.[4] Lony Neumann arbeitete unter anderem als Chefgestalterin in der Redaktion der Zeitschrift für bildende Kunst „Twortschestwo“. Und Fritz Christoph Hüffner gestaltete belletristische Buchtitel für die Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR VEGAAR.

 

Wie stellte sich das Leben der ehemaligen Bauhäusler dar, als Stalin sich Anfang der 1930er Jahre gegen die sogenannte „formalistische Architektur“ wandte? Was war ihr Plan B?

Die Wende kam im April 1932 mit dem Beschluss des ZK der WKP (b) „Über den Umbau der literarisch-künstlerischen Organisationen“ in der UdSSR. Der Pluralismus der zahlreichen Künstlerbünde sollte durch einheitliche Fachverbände abgeschafft werden. Die Architekten, unter denen es nur wenige Parteimitglieder gab, wehrten sich am längsten; ihr erster Kongress fand erst 1937 statt. Die Bauhäusler bekamen den neuen Wind der Gleichmacherei des sozialistischen Realismus, der oftmals in reinem Naturalismus bzw. Heroenkult gipfelte, sehr wohl zu spüren. Max Krajewski und seine Frau, die Malewitsch- und Lissitzky-Studentin Fanni Belostotzkaja hatten mit ihrem Entwurfsteam gerade einen Preis zum „Jubiläumsensemble 1905“ für den inneren Moskauer Stadtbezirk Krasnaja Presnja gewonnen. Der in Erinnerung an die Revolution von 1905 von ihnen geplante Stadtteil war ein durchdacht konzipierter, fantastisch in Form umgesetzter konstruktivistischer Vorschlag einer sozialistischen Stadt im rhythmischen Wechsel von privaten und gemeinschaftlich nutzbaren Räumen. Nach dem ZK-Beschluss fand er keine Mehrheit zur Ausführung.

In den von der Hauptstadt entfernteren Regionen, u. a. im Ural und in Sibirien, konnten architektur- und städtebauliche Prämissen avantgardistischer Inhalte und Formen noch bis Mitte der 1930er Jahre umgesetzt werden. Subversiv konstruierte man weiter modern und hübschte kahle Fassaden mit Dekor auf. Die Problematik – das hatte 1932/33 vor Ort schon Fred Forbat verstanden – bestand nicht zuvorderst darin, funktionalistische oder konstruktivistische Architektur zu schaffen; es sollte qualitätsgerechte Architektur sein. Man musste sich weit einlassen, war neugierig und clever genug, das Eine (westliche Erfahrungen) mit dem Anderen (östliche Gewohnheiten) zu verbinden. Fotografen und Gestalter hatten dagegen schlechtere Bedingungen. Lony Neumann legte ihre Rolleiflex in den Schrank, als Protokollfotografien und monumental aufgeblähte naturalistische Werke in Ausstellungen und Editionen gelangten. Die Gestaltung der Kunstzeitschrift wurde ihr entzogen. Antonin Urban aus Prag war 1934 mit Hannes Meyer an die neugegründete Architekturakademie gegangen. Er forschte dort unter anderem zur Wohnraumarchitektur. Doch der mit Meyer konzipierte Sonderband seiner Texte und Zeichnungen landete nach dem Druck auf Anweisung von oben im Reißwolf. Auch Erich Borcherts Aufträge zur Farbgebung von Gebäuden sind seltener geworden. Seinen Lebensunterhalt musste er von nun an wie andere Migranten mit dem Verkauf freier Kunst bestreiten. Sowjetische Redaktionen lehnten seine scharfen antifaschistischen Karikaturen für die Presse aus stilistischen Gründen („fremde Striche“) ab, erinnert sich Borcherts Tochter Erika heute beim Betrachten der Originale.[5]

Die meisten Bauhäusler blieben Gäste im Land. Wer Mitte der 1930er Jahre (als der Terror gegen Andersdenkende und Ausländer anrollte) konnte, der ging, auch Hannes Meyer und Hans Schmidt. Nein, sie hatten keinen Plan B, nicht für die UdSSR. 1937 wurden Konrad Püschel und Tibor Weiner des Landes verwiesen, Fritz Hüffner in Moskau und Peer Bücking in Leningrad verhaftet. Isaak Butkow, einer der Architekten des Moskwa-Wolga-Kanals, wurde ein Jahr lang gefoltert bevor er – wie Margarete Mengel, Antonin Urban, Leo Wassermann und Michail Kowarski – in Butowo bei Moskau erschossen wurde. Der letzte Ort des Architekten der Sozgorod Uralmasch, Béla Scheffler, ist ein Massengrab im Wald von Kommunarka am Moskauer Autobahnring. Andere Bauhäusler starben in Gefängniskrankenhäusern (Gerhard Moser, Stefan Sebök), in Lagern in Kasachstan (Erich Borchert, Arnold Knake) und auf der Halbinsel Taimyr (Pál Forgó).

 

Sie waren eine der ersten deutschen Kulturwissenschaftler*innen, die sich nach der Öffnung der russischen Archive auf die Spuren der Bauhäusler begaben. Was haben Sie gefunden?

Die Öffnung der russischen Archive geschah nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der Ära des ersten russischen Präsidenten Jelzin. Ich kam 1990/91 in das ehemalige Sperrgebiet von Swerdlowsk/Jekaterinburg, wo Scheffler fast zehn Jahre erfolgreich projektierte und baute, was mir anfangs nicht klar war, denn seine Spur war verdeckt. Noch in den 1980ern tauchte sein Name in einer Chronik der Geschichte des Uraler Werks für Schwermaschinenbau als deutscher Schädling und Volksverräter auf. Und die Verwirrung schien komplett, als die Werkszeitung 2003 über eine Ausstellung zu seinem 100. Geburtstag unter der Überschrift: „Ein Agent der deutschen Spionage errichtete das Uralmasch“ berichtete. Für diese Ausstellung konnte ich mit den ersten verifizierten Dokumenten des örtlichen Betriebsmuseums arbeiten. Ein Jahr später erhielt ich auszugsweise Kenntnis von Schefflers letzter Strafakte. Erst 2012 öffnete man mir in Moskau seine Personalakte der Komintern. Längst waren da viele andere Namen von Bauhäuslern hinzugekommen. Ab 1999 forschte ich in Perm und in Solikamsk. So lernte ich die wichtigsten Wirkungsorte des Architekten und Denkmalpflegers Philipp Tolziner kennen. Die Akteneinsicht ist mühsam. Bestände sind lückenhaft, mal bekommt man das Gewünschte vorgelegt und mal nicht. Auf Findbücher kann man oft nicht zählen. Übrigens: in der Regel handelt es sich immer um personenbezogene, nicht um Planungs- bzw. Werkdokumente. Diese Bestände sind auch heute noch größtenteils gesperrt. Wenn jemand wieder ausreiste, Fotokopien seiner Arbeiten mitnehmen konnte und sie in seinem Nachlass bewahrte, den er/sie später an Museen und Archive in Westeuropa übergab, hat man die Chance, manches zu finden. So z. B. zu Lotte Beese, Mart Stam und Johan Niegeman in den Niederlanden, zu Tibor Weiner in Ungarn, zu Hans Schmidt in der Schweiz, Fred Forbat in Stockholm und zu einer Reihe von Bauhäuslern in Deutschland, darunter auch in den Bauhaus-Nachfolgeeinrichtungen in Weimar, Dessau und Berlin. Vieles ist nicht systematisch gesammelt und abgelegt, das wenigste hinreichend ausgewertet.

 

An welchen Orten finden sich noch heute Spuren von am Bauhaus ausgebildeten Architekten in vormals sowjetischen Städten?

Da muss ich eine Landkarte des postsowjetischen Raums aufschlagen: Russland, die Föderation, bildet das Zentrum dieser historischen Spurenkunde. Sie reicht von Moskau bis Wladiwostok und verbindet am Ural den europäischen mit dem asiatischen Teil Sibiriens und dem Fernen Osten. Die großen Projekte mit Beteiligung von Bauhäuslern sind die Sozgorods Uralmasch/Jekaterinburg, in Perm, Ishewsk, Linkes Ufer/Magnitogorsk, Orsk, des Awtosawod/Nishni Nowgorod, des Tschernigowski-Rayons in Ufa. Bei den Gebäudetypen handelt es sich um Schulen, Fach- und Berufsschulen, Wohnquartale, Klubs, auch in Novosibirsk und Nowokusnezk, in Sernograd/Gebiet Rostow. Und wenn wir außerhalb des heutigen Russlands uns umsehen, sind Baku (Aserbaidshan), Samarkand, Buchara (Usbekistan), Charkow und Makejewka (Ukraine) zu nennen.

 

Eine kleine Gruppe russischer Studenten besuchte das Bauhaus, woraufhin auch eine kleine Bauhaus-Delegation in die Sowjetunion reiste, unter anderem Gunta Stölzl und Arieh Sharon (1928).

Die von Ihnen angesprochene Reise wird in der Literatur erstens als Beweis genannt, dass es zwischen den Avantgarde-Schulen in Dessau und Moskau/Leningrad in den 1920er Jahren direkte Beziehungen gab. Allerdings trugen sie keinen institutionellen Charakter. Die Reise von Stölzl, Sharon und dem von Ihnen nicht erwähnten Peer Bücking entsprang einer privaten Initiative von Gunta Stölzl. Zuvor hatte eine Gruppe sowjetischer Bauleute, unter ihnen auch Studenten des WChUTEIN, das Bauhaus besucht und eine mündliche Einladung ausgesprochen. Die Jungmeisterin der Weberei, die Hannes Meyers Reformen am Bauhaus zur Entwicklung einer neuen Produktpalette für eine sozial gerechtere Wohn- und Umweltkultur unterstützte, erkundet mit dessen Studenten im April/Mai 1928 die sowjetische Hauptstadt. Sie treffen sich mit Kommilitonen des WChUTEIN, sehen deren Studentenarbeiten. Zurück in Dessau findet ihr mündlicher Bericht große Aufmerksamkeit. Erst mehr als ein Jahr später, im November 1929, setzen Dessauer Studenten der Kostufra[6] zum Anlass des 12. Jahrestages der Oktoberrevolution einen Brief an die Moskauer Hochschulstudenten auf, in dem sie die eigene unzulängliche, soll heißen „nicht genügend revolutionäre“ Lage und Haltung, beschreiben. Auch die Direktoren Meyer und Nowitzki tauschen kurze Botschaften aus und begrüßen einen Aufbau lebendiger Austauschbeziehungen.

 

1929 wurde Hinnerk Scheper, Jungmeister der Werkstatt für Wandmalerei, für zwei Jahre vom Bauhaus freigestellt, um am Aufbau des Moskauer Maljarstroi mitzuwirken. Begleitet wurde er von seiner Frau, der Malerin Lou Scheper-Berkenkamp. Wie waren ihre Eindrücke von Moskau und standen sie in Kontakt mit der Hannes-Meyer-Brigade?

Die Vermittlung Schepers nach Moskau geschah durch Fred Forbat, der ihn als besten Farbgestalter für die Objekte des Neuen Bauens empfahl. Scheper reizte diese Aufgabe sehr, wenngleich seine Frau ihn zwar begleiten, offiziell aber nicht mitarbeiten durfte. De facto ist sie in dieser Zeit seine engste Beraterin und oft auch Mitarbeiterin. Zugleich nutzt sie zeitliche Freiräume zum Schreiben, manches publiziert sie in der „Moskauer Rundschau“ oder in Briefen, anderes bleibt privaten Aufzeichnungen vorbehalten. Die ersten Bemerkungen gelten dem visuell Erlebten: „Erstaunliche Architektur, reizvoll durch den Eindruck des Gewordenen, nicht geplanten. Neben- und Durcheinander: Prachtbauten und … Läden, Kirchen und Holzhäuser … die Plätze riesig und unregelmäßig, die Straßen breit … Schwere (aber nie schwerfällige) Architektur neben primitiver (aber eindringlicher).“[7] Lou Scheper erwähnt „lebendige Graus, Rosa, Blaus (aus Ultramarin)“ großer Flächen, die durch Schrift belebt sind. Allerdings sei die „moderne Architektur meist als toter grauer Block zu sehen, fremd und plump gegliedert in dem lebendigen Bild der Stadt.“[8]

Damit hat sie die Herausforderung benannt, eigene Vorschläge zu machen. Schon nach kurzer Zeit boomt das von Scheper nach Werkstattprinzipien der Wandmalerei neu errichtete Laboratorium des Maljarstroi. Anfang Februar 1930 verstärkt Erich Borchert (ein ehemaliger Bauhaus-Student Schepers) das Kollektiv. Nach einem Jahr ist ein Anfang gemacht. Mossei Ginsburg hat Scheper auch außerhalb dessen Tätigkeit im Trust mit der farblichen Innengestaltung seines Narkomfin-Gebäudes betraut. Nach Vertragsende kehrt Scheper ans Bauhaus zurück. Von dort teilt er im Brief vom 6. November 1931 seinem Freund und Kollegen Boris Ender mit: „Ich lebe noch sehr gut mit Euch und Eurer oder unserer Arbeit. Hoffentlich kann ich das Begonnene im nächsten Sommer fortsetzen.“[9] Scheper wollte künftig zwischen Moskau und Dessau pendeln. Die Schließung des Bauhauses in Dessau 1932 wie auch sich zuspitzende politische Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik, Probleme der sowjetischen Behörden und nicht zuletzt die Sorge um seine Trennung von der Familie machten weitere Reisen unmöglich.

Die Beziehung zwischen Scheper und Hannes Meyer war schon am Bauhaus schwierig. Scheper bekam zu spüren, dass Meyer – im Unterschied zu seinem Vorgänger Gropius – die Wandmalerei nicht so ernst nahm. Schepers Delegierung nach Moskau fasste er zudem als Affront auf und wollte ihn deshalb sogar aus dem Bauhaus entlassen. In Moskau ging er Scheper aus dem Weg, vermied jeglichen Kontakt. Er beargwöhnte Schepers Fähigkeit des offenen Austauschs mit Vertretern der Moskauer Avantgarde wie mit dem deutschen Botschafter Dirksen.

Dabei teilte ja Hannes Meyer die bejahende Aufbruchsstimmung, als er im Oktober 1930 nach Moskau kam: „alle werte sind umgewertet“.[10] Und ein Jahr später schreibt er an Lotte Beese, er habe „in zwölf Monaten wie für vier Jahre gearbeitet“: „ … im vergleich zu dem westen ist der osten eben stark und kräftig.“[11]. Zugleich kündigt er an: „in der nächsten zeit möchte ich mich theoretisch sehr vervollkommnen und mir eine gründliche leninistische bildung systematisch aneignen. die bolschewistische praxis schafft eine natürliche solide unterlage.“[12] Bei dieser Auffassung blieb Hannes Meyer, der 1935 in die Kommunistische Partei der Schweiz eintrat und 1936 endgültig die Sowjetunion verließ.

Ganz anders erlebte und resümierte es sein unehelicher Sohn Johannes Mengel. Wie seine Mutter wurde der elfjährige Junge Anfang 1938 vom NKWD in der „Deutschen Aktion“ verhaftet, die Mutter im August 1938 in Butowo erschossen. Sein Leben war ein ständiger Überlebenskampf. Erst 1994 konnte Johannes Mengel (1927–2003) als Spätaussiedler nach Deutschland zurückkehren. In einem im Familiennachlass bewahrten russisch verfassten biografischen Poem blickte er zurück und stellte sich der Frage:

 

    „Womit beginnt Heimat?

    Mit dem Gitter im Taganka-Gefängnis;

    Aber sie kann auch beginnen

    Mit den Fußlappen im Bergwerksstiefel.

    Vielleicht mit Arbat und Sretenka

    In dem bis zum Schmerz geliebten Moskau,

    Wo ich voller Zuneigung Russisch lernte

    Als beste Sprache der Welt.

 


    Als Kind glaubte ich, dass Heimat

    All das ist, was mir die Mutter eingeflößt hat:

    Und die Freude der Verbindung mit den Völkern,

    Und Freundschaft, Liebe, wohltätig zu sein.

    Doch als Junge habe ich leidvoll erkannt

    Dass ich zum feindlichen Sohn wurde,

    Im Gefängnis, Kinderheim und in der Kolonne

    Mit elf Jahren gereinigt.

 

    In meine Heimat kehre ich zurück, um zu leben.“[13]

 

Philipp Tolziner überlebte den Gulag. In den 1960er Jahren durfte er nach Moskau zurückkehren. Nach langen Jahren als Denkmalpfleger und Restaurator im Ural führte ihn sein letztes städtebauliches Projekt zurück zu seinen am Bauhaus gelernten Erfahrungen des typisierten Wohnungsbaus. In Wladiwostok konzipierte er auf einem der für den Fernen Osten typischen Hügel (Sopka) den neuen Stadtbezirk „Wtoraja retschka (Zweites Flüsschen) mit einer dynamischen Anordnung von sechsgeschossigen Häuserblocks und den in dieser Region ersten Punkthochhäusern. Besondere Beachtung gab er der Gestaltung der Höfe und der Planung von Service-Einrichtungen im Parterre der Punkthochhäuser.

 

 

Footnotes

 

  1. ^ Stalin veranlasste die Organe des NKWD, von Herbst 1936 bis Ende 1938 rund 1,5 Millionen Menschen im Land zu verhaften, mehr als die Hälfte wurde erschossen, die anderen kamen in „Arbeits- und Besserungslager“ des sowjetischen Gulag-Systems, nur wenige überlebten. Unter den Opfern der Massenoperationen gegen Andersdenkende sowie mutmaßliche Gegner von der Stalins Herrschaft befanden sich viele deutsche Vertragsarbeiter und Emigranten.
  2. ^ Mart Stam, Korrespondenz, Inv.-Nr. 43-K-1931-08-25-1, ETH Archiv / gta Zürich.
  3. ^ Mart Stam, Korrespondenz, Kopie des Schreibens, Inv.-Nr. 43-K-1932-08-20, ETH Archiv / gta Zürich.
  4. ^ Über Lena Bergners Arbeit in der Sowjetunion: Viridiana Riviera Zavala, María Montserrat Farías & Marco Santiago Mondragón: „Lena Bergner. From the Bauhaus to Mexico“, im bauhaus imaginista-Online Journal.
  5. ^ Gespräch von Astrid Volpert mit Erika Koltschenko, November 2013 in Moskau.
  6. ^ Kommunistische Studenten Fraktion.
  7. ^ Notizheft Lou Scheper Moskau, Juli-November 1929, unpaginiert, Nachlass Hinnerk und Lou Scheper, Bauhaus-Archiv Berlin.
  8. ^ Ebd.
  9. ^ Nachlass Boris Ender, Inv.-Nr. f. 2973 op.1 d.143 l.1, RGALI Moskau.
  10. ^ Hannes Meyer, Brief vom 1. November 1930 aus Moskau nach Berlin an Margarete Mengel (ehemalige Sekretärin am Staatlichen Bauhaus Dessau), Getty Research Institut, LA, ID 910170 HM3, S. 1.
  11. ^ Hannes Meyer, Brief vom 23. Oktober 1932 aus Moskau an Lotte Beese, Getty Research Institut, LA, ID 910170, HM 25, S. 1.
  12. ^ Ebd.
  13. ^ Deutsche Übersetzung und Archiv Astrid Volpert, Berlin.

Erich Borchert, Farbplan für die Kantine der Moskauer Verbraucherorganisation MOSPO, 1930, in: Maljarnoje delo, Nr.1/2, 1930.

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